Qualifikation und Realität

Ich arbeite zwei- bis dreimal in der Woche abends in der Küche eines Pizzalieferservices mit relativ wenig Verantwortung. Im Rahmen einer Weiterbildung zur Lerntherapeutin führe ich mit einem Kind einmal pro Woche Lerntherapie durch, die ich vor- und nachbereite. Daneben gebe ich noch einem Jugendlichen Nachhilfe. Damit komme ich über die Runden. Für die WG-Miete und meinen Lebensunterhalt reicht es. Meine BaföG-Schulden aus einem langjährigen Studium kann ich damit nicht begleichen. Geld für ein sportlicheres Fahrrad oder regelmäßiges Bouldern mag ich nicht ausgeben, auch wenn es mir therapeutisch helfen könnte. Gesellige Unternehmungen und kulturelle Veranstaltungen mag ich mir manchmal auch nicht leisten, zumal sie mit meinen Abend- und Wochenenddiensten nicht immer vereinbar sind. An eine weitere kleine Weiterbildung, um beruflich mehr Fuß zu fassen, ist nicht zu denken. Ich bin 30 Jahre alt und habe Probleme mich in die Berufswelt zu integrieren, weil ich an chronischen Depressionen und einer generalisierten Angststörung leide. Das ist meine Geschichte und sicher eine von vielen. Alle paar Tage schaue ich nach Stellenanzeigen oder möglichen Arbeitgebern. Mit meinen Erfahrungen und Bedürfnissen kann ich das meiste auf dem Stellenmarkt ausschließen. Trotz oder wegen meines Masterabschlusses der Erziehungs- und Bildungswissenschaften. Wie das so mit Geisteswissenschaften ist, hat mich das Studium nicht automatisch für einen Beruf qualifiziert. Eine Karriere an der Uni war für mich mit meiner sozialen Angststörung nicht denkbar. Als ‚Halbqualifizierte“ in der Sozialen Arbeit bin ich zweimal gescheitert, was meine letzte schwere depressive Episode triggerte. Mit meiner Angststörung und Depression fühle ich mich einfach nicht in der Lage, hilfsbedürftigen Menschen Halt zu geben. Heute schicke ich selten und teilweise initiativ Bewerbungen raus. Das geht mir leicht von der Hand, darin bin ich geübt und es gibt mir das Gefühl, irgendwie voranzukommen. Vereinzelt kommt es zu einem Bewerbungsgespräch. Ob ich mir nach einer Zusage die Arbeit wirklich zutraue, steht auf einem anderen Blatt. Soweit bin ich bisher noch nicht gekommen. Die Lerntherapie und Nachhilfe sorgen dafür, dass ich mein Studium „verwursten“ und zum Selbstschutz anderen Menschen wahrheitsgemäß und hochtrabend über mich erzählen kann: „Ich mache eine Weiterbildung zur Lerntherapeutin.“ Das ist beruhigend. Die Tätigkeit macht mir mteilweise sogar Freude, ich werde immer routinierter und selbstsicherer und kann einen sinnvollen Beitrag zur Gemeinschaft leisten. Aber leben kann ich davon allein nicht. Meine Lerntherapie aufzustocken auf so viele Stunden und Kinder, dass ich davon leben könnte, traue ich mir nicht zu. Das steht ohnehin nicht zur Debatte, weil ich mich noch weiterbilde und erst mit den Erfahrungen Allmählich mein Selbstvertrauen darin aufbaue.

Gezwungen zur Arbeit

Kann ich mit meiner Depression arbeiten? Ja. Sollte ich mit meiner Depression arbeiten? Ja, laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe hilft Arbeit bei der Genesung. Jein, würde ich sagen, weil es auf die Art und den Umfang der Arbeit ankommt. Nicht jede Arbeit hilft jedem Menschen bei seiner Genesung. Ich bin unzufrieden, ich zweifle und grüble über meine Situation, weil der Gastrojob mich oft so auslaugt, dass ich den ganzen Tag danach zur Regeneration brauche. Fest steht, dass ich über diesen Midijob materiell abgesichert und automatisch krankenversichert bin, was mir mehr Geld einspart als bei einem Minijob mit zwei Diensten pro Woche. Aber ist die Arbeit das wert? Nicht zuletzt strample ich mich in der Pizzaküche ab, um meinen Selbstwert zu retten. Dadurch bin ich wenigstens ein funktionierendes Rädchen im System und ein Teil der Gemeinschaft. Das fühlt sich aber nicht heilsam an, weil die Arbeit meine emotionale Taubheit und Gleichgültigkeit eher verstärkt. Es gibt bestimmt Menschen, denen der Job durchaus passen und gefallen könnte. Mich stresst er aber ungemein. Wie im Tunnel arbeite ich die fünf Stunden oder mehr ohne Sitz- oder Essenspause durch. Die Menschen und das Miteinander auf engem Raum überfordern mich. Danach bin ich völlig ermattet und brauche Zeit, um langsam wieder zu mir zu kommen. Vor dem Bezug von Arbeitslosengeld-II- oder Hartz-IV-Leistungen graut es mir. Das habe ich schon einmal erlebt. Damals wollte ich da bloß irgendwie wieder raus aus der sogenannten Arbeitslosigkeit. Ich fühlte mich nutzlos, wertlos und schuldig, weil der Stempel „arbeitslos“ nun an mir haftete. Ich kam zu dem Schluss: ich brauche eine Erwerbstätigkeit, um mein Selbstwert- und Zugehörigkeitsgefühl zu retten. Dafür nahm ich Kosten und Mühen auf mich. Ich zog in eine andere Stadt, wo ich die Weiterbildung absolvieren und durch die räumliche Nähe zu meiner Schwester hoffentlich Kraft tanken könnte. Die Weiterbildung und den Umzug finanzierte ich aus meinen Ersparnissen. Der Neuanfang verlangte mir nervlich viel ab und zwang mich, wieder ein Medikament einzunehmen, das mich wenigstens ruhig schlafen lässt.

Heilsame Aktivitäten

Meine unentlohnten, „ehrenamtlichen“ Tätigkeiten als Mitglied in einer Arbeitsgemeinschaft zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen und als Kinderbuchrezensentin in einer Arbeitsgemeinschaft der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft helfen mir, mich wieder lebendig und als wertvollen Teil einer Gemeinschaft zu fühlen. Ebenso meine Aktivitäten, mit denen ich mich alleine beschäftige, wie das Schreiben, Lesen, Keyboardspielen, Kochen, Yoga, Fahrradfahren oder Gärtnern. Ich bin auf Tätigkeiten mit Sinn und Leidenschaft angewiesen, um mich selbst wieder mehr zu spüren und wiederzufinden. In meinem Alltag bin ich ständig aktiv, um mich quasi selbst zu therapieren. Im Kontakt mit anderen Menschen brauche ich einen authentischen und wertschätzenden Umgang, damit ich wieder mehr Gefühl für mich selbst und andere bekomme. Dafür besuche ich auch eine Selbsthilfegruppe. Ich gehe regelmäßig zu einem
Psychiater, um medikamentös versorgt zu bleiben, und hoffe auf eine baldige Psychotherapie.

Erwerbstätigkeit geht über Gesundheit

Durchaus komme ich in der Pizzaküche in einen Flow und genieße die Gesellschaft im Team. Aber das überwiegt bei weitem nicht. Mein Pizzajob fühlt sich eher destruktiv an, nicht heilsam. Bislang komme ich aber aus dem Dilemma nicht heraus, dass ich den Job für meine materielle und vor allem für meine sozial-emotionale Existenzsicherung brauche. So groß ist die Angst, mein Gesicht zu verlieren und in Scham zu versinken, wenn ich nicht mein eigenes Geld verdiene. Sicher zweifle und grüble ich so oder so, weil ich Depressionen habe. Sicher fühle ich mich ständig gestresst und von beruflichen Anforderungen oder sonstigen vermuteten Erwartungen anderer überfordert, weil ich Depressionen habe. Aber ich weiß auch, was mir gut tut und mir wieder Lebensenergie zurückgibt. Ich bin mehr als meine Depression oder Angststörung und auf einem Heilungsweg. Mein Wunsch ist es, ausschließlich Tätigkeiten auszuüben, die zu mir passen und mir dabei helfen, mich selbst wieder zu spüren und zu heilen. Ist das zu viel verlangt? Stattdessen fühle ich mich gezwungen, einen Job zu leisten, der meine Apathie verstärkt und meine Genesung sabotiert. Habe ich das Recht auf Arbeit, also auf materielle Absicherung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben? Habe ich das Recht auf Genesung? Und vor allem: habe ich das Recht auf beides? In dieser Gesellschaft, so scheint mir, kann ich mich nur für eines der beiden entscheiden: entweder Arbeit, die meine Heilung verhindert, oder ‚Arbeitslosigkeit‘. Entweder das kranke System bedienen oder aus dem System rausfallen. Es sei denn, ich habe Glück bei der Arbeitssuche, der Job passt zu mir und sichert meinen Lebensunterhalt. Beziehungsweise ich habe einen passenden Job und mein Lebensunterhalt ist automatisch durch ein bedingungsloses Grundeinkommen gesichert. Davon kann ich bislang nur träumen. Arbeit und Genesung sind aber beides Grundbedürfnisse oder auch Grundrechte und sie müssen zusammen gedacht werden. Es stellt sich nicht die Frage, ob eine Arbeit mit Depression oder Angststörung möglich ist, sondern welche Arbeit individuell bei der Genesung helfen kann. Das gilt im Prinzip für alle Erkrankungen.

Leben in Würde

Die Behörden oder auch wir selbst, die das alles leider verinnerlicht haben, müssen damit aufhören, uns dazu zu zwingen, Arbeit zu leisten, die unsere Krankheit verstärkt und unsere Heilung verhindert. Die Entscheidung zwischen so einer Erwerbstätigkeit und der „Arbeitslosigkeit“ ist eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera. Stattdessen müssen die Behörden Menschen aktiv dabei helfen, Arbeit zu finden, die zur Persönlichkeit, zur aktuellen Lebenssituation, Erkrankung und Genesung passt. Eben nicht nur Arbeit, die für den Menschen auf Biegen und Brechen leistbar ist. So ein Konzept wäre nachhaltiger und gewaltfreier. Langfristig und weiter gedacht brauchen wir natürlich eine bedingungslose Grundsicherung, weil nur die unser Selbstwert- und Zugehörigkeitsgefühl schützt. In anderen Worten unsere Würde. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es in Artikel 1 Grundgesetz. Sie ist aber nicht unantastbar, sondern zutiefst verletzlich und wird ständig verletzt. Deswegen gibt es ja dieses Gesetz. Wenn die Existenz der Menschen, sowohl materiell als auch sozial-emotional, von Grund auf nicht gesichert ist, werden Menschen ihrer Würde beraubt. Es wird davon ausgegangen, dass wir erstmal etwas leisten müssen, um in dieser Gesellschaft existieren zu dürfen. Natürlich ist es ohnehin unser Bedürfnis und es gehört zu unserem Leben dazu, dass wir uns in eine Gemeinschaft einbringen, nützlich sein und etwas bewirken wollen. Wir wollen alle ein wichtiger Teil der Gruppe sein. Das ist zumindest mein Menschenbild. Aber müssen wir dabei nicht auch wir selbst bleiben und herausfinden, was uns Lebensenergie spendet und was wir der Welt zu geben haben? Wenn wir ständig das Gefühl haben, noch nicht richtig dazuzugehören und womöglich ausgeschlossen zu werden, stehen Stress und Angst im Vordergrund. Unser Selbstwert- und Zugehörigkeitsgefühl ist ständig in Gefahr. Natürlich versuchen wir dann alles, um unsere Existenz zu sichern. Wir werden in ein Hamsterrad gedrängt. Wir werden vom König zum Bettler gemacht. Das ist ein gesellschaftliches Grundproblem, das Selbstwertprobleme und seelische Erkrankungen schürt. Wir brauchen von Grund auf die Sicherheit, dass wir dazugehören und geschätzt werden, so wie wir sind. Und mehr Raum, um unsere Bedürfnisse und Talente zu erkennen und in die Gemeinschaft einbringen zu können. Kindergarten, Schule, Ausbildung, Arbeit, selbst unsere Familie lehren uns leider etwas anderes. Wir werden dazu erzogen und sozialisiert, uns anzupassen, zu funktionieren und unsere Gefühle zu vernachlässigen. Und doch ist Persönlichkeitsentfaltung ein Grundrecht. Artikel 2 Grundgesetz Absatz 1: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (…). Absatz 2: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. (…).“ Doch wie sollen wir uns für eine passende Arbeit entscheiden, wenn wir immerzu gelernt haben, uns anzupassen? Der Staat müsste uns davor schützen, Arbeit zu leisten, die uns schadet, und uns ermöglichen, uns so einzubringen, wie es unserer Persönlichkeit und Bedürfnissen entspricht. Das wären tiefgreifende

seelische Gesundheitsprävention und eine Umsetzung des Grundrechts auf Persönlichkeitsentfal-tung. Brauchen Menschen Hilfe dabei, ihren beruflichen Platz zu finden, weil sie zum Beispiel psychisch erkrankt sind, so müssten die Behörden intervenieren und sie darin unterstützen, die Arbeit zu finden, die ihnen beliebt. Im persönlichen Gespräch muss ein Konsens darüber hergestellt werden, wie es für die vulnerable Person beruflich weitergehen kann. Wenn wir die Persönlichkeits-entfaltung, Inklusion und seelische Gesundheit fördern und das bestehende System nicht einfach reproduzieren wollen, müssen wir mehr vom Menschen aus denken. Wenn uns das bestehende System nicht mehr behindert, sondern darin unterstützt, wir selbst zu sein, sind wir nicht mehr krank oder „behindert“.

Anastasia W. – AG Vorurteilsfrei

Die Behörden oder auch wir selbst, die das alles leider verinnerlicht haben, müssen damit aufhören, uns dazu zu zwingen, Arbeit zu leisten, die unsere Krankheit verstärkt und unsere Heilung verhindert. Die Entscheidung zwischen so einer Erwerbstätigkeit und der „Arbeitslosigkeit“ ist eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera.

 


18.10.2021